Sinti und Roma haben eine Jahrhunderte alte Geschichte in Deutschland und Bayern. Es ist eine Geschichte von Widersprüchen zwischen Bewunderung und Abneigung und sogar Hass.
Verfolgung und Diskriminierung war der Minderheitengruppe schon immer bekannt. 1899 wurden jedoch mit der Errichtung der sogenannten „Zigeunerzentrale“ in München neue Maßstäbe gesetzt. Systematische Erfassung, Identifizierung und Klassifizierung wurden etabliert und dienten der weiteren Ausgrenzung und Kriminalisierung vieler Sinti und Roma.
Mit dem ersten Weltkrieg, in dem auch viele deutsche Sinti und Roma für ihr Vaterland kämpfen, endete auch die Kaiserzeit. In der darauffolgenden Weimarer Republik, die eine durchaus demokratische und humanistisch orientierte Verfassung hatte, fanden viele Familien ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft. Diese junge Republik konnte jedoch nationalistischen und rassistischen Kräften nicht standhalten. Ende der 1920er Jahre wurden neue Weichen in der Verfolgung der „Zigeuner“ gestellt und ebneten den Weg für die Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten.
Über das Leben der Sinti und Roma in dieser Epoche existieren wenige und unzureichende Informationen. Vereinzelte Berichte dokumentieren, dass Angehörige der Minderheitengruppe ihren Lebensunterhalt saisonal oder stetig in ausgeübten Wandergewerben verdienten. Zum Beispiel im lukrativen Pferdehandel oder auch in der Schaustellerei, Musik, Artistik oder auch in weniger angesehenen Branchen wie die Regenschirm- und Kesselflickerei sowie Korbflechterei. Dies waren oftmals „Wanderberufe“, die sich aufgrund der Jahrhunderten Verfolgung der Sinti und Roma unter den Angehörigen der Gruppe etabliert hatten. (Vgl. NS-Dokuz 2016, S. 72)
Die systematische Überwachung der gesamten Volksgruppe beginnt in Bayern mit der Einrichtung des „Nachrichtendienstes für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“, kurz „Zigeunernachrichtenstelle“ beim Sicherheitsbüro der Königlichen Polizeidirektion München am 28. März 1899. Mit dieser Behörde wollte man alle Sinti und Roma erfassen und deren Bewegungen und Aufenthalte dokumentieren, damit sie im Falle von Beschuldigungen oder auch aus reiner Willkür gefunden und bestraft werden konnten.
Das bayerische Innenministerium notiert zum Aufbau der neuen Zentrale in einem Ministerialentschluss:
„Demgemäß ist jedes Erscheinen von Zigeunern in einem Distrikts-Verwaltungsbezirke von demjenigen Polizeiorgane, welches hiervon zuerst Kenntnis erhält, der k. Polizeidirektion München (Sicherheitsbüro) sofort telegraphisch oder telephonisch zu melden. Telegramme sollen wenigstens die Bezeichnung der Zigeuner und die Richtung der Wanderung enthalten, z.B.: Zigeunerbande Blach, von Unterthalheim kommend, bei Oberthalheim festgehalten. Die Distriktsverwaltungsbehörde hat sodann der k. Polizeidirektion München schleunigst eine eingehende Mitteilung zu übersenden (…)“ (Vgl. Diener, 2021, S. 44)
Alfred Dillmann, Jurist und Leiter der Erfassungsstelle, veröffentlichte 1905 ein sogenanntes „Zigeunerbuch“. Dieses zum amtlichen Gebrauch bestimmte Buch enthielt Personenbeschreibungen sowie die Namen von über 3000 Personen und Fotos von Einzelpersonen, die sich aus dem bis dahin gesammelten Datenmaterial zusammensetzten. Es sollte den Polizeibehörden dabei helfen, „Zigeuner“ zu identifizieren. (vgl. www.sintiundroma.org/de/set/010226/)
In der Einleitung des Buches wird die Grundeinstellung gegenüber Sinti und Roma deutlich:
„Das fahrende Volk der Zigeuner ist … ein schädlicher Fremdkörper in der deutschen Kultur geblieben. Alle Versuche, die Zigeuner an die Scholle zu fesseln und an eine sesshafte Lebensweise zu gewöhnen, sind fehlgeschlagen. Auch drakonische Strafen konnten sie von ihrer unsteten Lebensführung und ihrem Hange zu unrechtmäßigem Vermögenserwerb nicht abbringen. Trotz vielfacher Vermischung sind ihre Abkömmlinge wieder Zigeuner geworden mit den gleichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten, die schon ihre Vorfahren besessen hatten.“ (Dillmann, 1905)
Die erkennungsdienstliche Behandlung von Sinti und Roma wurde im April 1911 festgeschrieben. Dies hatte zur Folge, dass Menschen, die als Angehörige der Minderheitengruppe von der Polizei aufgegriffen wurden, egal ob strafmündig oder nicht, automatisch Fingerabdrücke genommen wurden. Bei anderen Personengruppen war das Vorliegen einer Straftat Voraussetzung für eine erkennungsdienstliche Behandlung. (Vgl. Diener, 2021, S. 47)
Im gleichen Jahr fand darüber hinaus in München eine „Zigeunerkonferenz“ statt. Bei diesem „Arbeitstreffen“ definierte man den „Zigeuner“-Begriff für die alltägliche Praxis:
„Zigeuner im polizeilichen Sinne sind sowohl die Zigeuner im Sinne der Rassenkunde als auch die nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ (zitiert nach Leo Lucassen,1911) (vgl. Hesse/Schreiber, S.24).
Die von Bayern einberufene Konferenz, an der mehrere deutsche Bundesstaaten teilnahmen, wurde als „Besprechung über gemeinsam zu ergreifende Maßnahmen gegen die Zigeunerplage“ bezeichnet. Ziel u.a. war es, ein „Identifizierungsverfahren [zu finden], das die Lügengewebe, die der Zigeuner (…) mit raffinierter Schlauheit um seine Person zu spinnen weiß, zerstört“. (Vgl. Diener, S. 50)
Ein Artikel aus den „Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 12. März 1912 zeigt, wie das Bild über Sinti und Roma damals gezeichnet wurde:
„In der Stadt hört man ja wenig von den Zigeunern. Höchstens etwas Zigeunerromantik. Sei es auf der Bühne von Carmens Zigeunerliebe oder gar von den „Nobel-Zigeunern“, sei es, dass in irgendeinem Café ein dunkeläugiger Zigeuner-Primas die Fiedel führt (…) Und doch sind die Zigeuner eine Landplage, auf die das Interesse der Öffentlichkeit viel stärker gerichtet sein müsste. Sie bilden eine ständige Gefahr für Sicherheit, Eigentum und öffentliche Gesundheit, letzteres besonderes durch die Einschleppung epidemischer Krankheiten, z.B. der Blattern.“ (Vgl. Diener, 2021, S. 52)
All diese Vorurteile und rassistischen Diffamierungen wurden im gleichen Jahr in der „Denkschrift über die Bekämpfung der Zigeunerplage“ festgehalten. Ein Manifest des Hasses und der Ausgrenzung und Grundsteinlegung für weitere Maßnahmen in dieser Epoche.
1912 „Denkschrift über die Bekämpfung der Zigeunerplage“
Viele der für Sinti und Roma definierten Vorschriften wurden während des ersten Weltkriegs immer weiter verschärft. Auch der alte Vorwurf der „spionierenden Zigeuner“, der die Gruppe seit ihrer Ankunft in Europa begleitete, wurde wieder entfacht. Ein Widerspruch.
„Deutsche Sinti und Roma kämpften und starben ebenso wie deutsche Juden und alle anderen Deutschen im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland und erhielten mitunter hohe Auszeichnungen. Trotzdem war das Misstrauen der Behörden ihnen gegenüber groß.“ (Vgl. NS-Dokuz 2016, S. 90)
Im Juli 1926 wurde das Gesetz „zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“, umgangssprachlich „das bayerische Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetz“ eingeführt. Hiermit wollte man den Zuzug oder das Zusammenkommen von Sinti und Roma verhindern und die „Säuberung des flachen Landes von sicherheitsgefährlichen Personen“ sicherstellen. (Vgl. Diener, 2021, S. 57)
Wer als „Zigeuner“ oder Landfahrer galt, durfte nur noch mit polizeilicher Erlaubnis in Wohnwagen umherziehen. (Vgl. NS-Dokuz 2016, S. 98)
Dieses Gesetz fand zunächst nur in Bayern Anwendung, wurde aber bald deutschlandweit nachgeahmt und galt als das radikalste und umfassendste Einschränkungsgesetz dieser Zeit.
Es hatte weitreichende Konsequenzen und war nicht nur ein Wegbereiter für die Vernichtungspraxis der Nazi-Diktatur bis 1945, sondern rechtfertigte auch nach dem Weltkrieg die „Zigeunerpolitik“ in Bayern, da es – so die Begründung – zu Zeiten der Demokratie entstanden war.
Die öffentliche Wahrnehmung der Sinti und Roma war von vielen Vorurteilen und Stereotypen geprägt, die im kulturellen und politischen Leben ständig wiederholt wurden. In Zeitungsartikeln und Redebeiträgen von Landtags- und Reichstagsabgeordneten, in vielen Romanen und Gedichten, Opern und Operetten fanden diese Klischees weite Verbreitung. Mit der Lebenswirklichkeit von Sinti und Roma hatten sie jedoch nichts zu tun. Die Vorurteile führten zur Ausgrenzung der Sinti und Roma als „Fremde“ und „Zigeuner“ und erschwerten ihre Integration. (Vgl. NS-Dokuz 2016, S. 78)
Allen Widrigkeiten zum Trotz waren Sinti und Roma vor der Machtergreifung zunehmend in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ihre beruflichen Tätigkeiten wichen oftmals von traditionellen Erwerbstätigkeiten ab. Auch Wechsel vom gruppentypischen katholischen Glaubensbekenntnis zum Protestantismus waren üblich; vermehrt wurden auch Hochzeiten in die Mehrheitsgesellschaft als nichts Außergewöhnliches betrachtet. Seit den 1920er Jahren verzeichnete man auch eine steigende Anzahl an Mitgliedschaften in Sportvereinen bis hin zu regionaler oder zu reichsweiter Bekanntheit von Einzelpersonen im Fußball und im Boxen. Menschen aus der Minderheit näherten sich auch politischen Organisationen oder traten ihnen bei (Vgl. NS-Dokuz 2016, S. 60).
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